Abschied von Sisyphos

Ohne Chaos geht es nicht. Deshalb empfiehlt Jan-Uwe Rogge, sich damit zu arrangieren.

Eltern streben nach dem pädagogischen „Oscar“

Manchen Eltern ergeht es wie Sisyphos. Kaum haben sie eine erzieherische Herausforderung gelöst, schon steht die nächste vor der Tür. Und was ihnen diese Arbeit zusätzlich erschwert: Viele wollen ein Problem nicht nur lösen, sie wollen es, so meine Beobachtung, perfekt lösen. Manche scheinen geradezu danach zu streben, jeden Tag den pädagogischen „Oscar“ verliehen zu bekommen, und nehmen dabei fast jede Anstrengung und Mühsal in Kauf. Sie suchen nach dem Rezept für ihr Problem – und verwechseln mithin Kindererziehung mit dem Kochen einer Speise. „Sie sollten“, rät mir eine Briefschreiberin, „bei der Neuauflage Ihrer Bücher ein Stichwortverzeichnis einbauen, zum Beispiel: Aufräumen Seite 71 bis 75. Dann kann man Ihre Bücher noch besser nutzen.“ Hinter diesem Perfektionismus, für jedes Problem sofort die ideale Lösung zur Hand zu haben, steckt häufig ein geradezu zwanghafter Versuch, bloß keinen Fehler zu machen. Denn Fehler bei der Erziehung von Kindern, hat man doch gelesen, könnten deren Entwicklung behindern und negativ beeinflussen. Deshalb wollen viele Eltern nicht nur einfach erziehen, sondern perfekt, geradezu einzigartig erziehen. Sie wollen doch das Beste für das Kind!

Unvollkommenheit macht menschlich

Aber kein Vater, keine Mutter können je perfekt und vollkommen sein; das spüren sie auch sehr genau. Und da sie dieses Gefühl nicht aushalten, suchen sie nach Sündenböcken für das alltägliche Scheitern: die Politik, die Gesellschaft, die Schule, die Lehrer, der Kindergarten, die Erzieherin… Und wenn diese Sündenböcke als Ausrede nicht taugen, weil sie den Heranwachsenden tatsächlich förderliche Rahmenbedingungen bieten, bleibt doch jemand übrig, der den Eltern jeden Tag den Spiegel vorhält, in dem sie die eigene Unvollkommenheit erblicken: das Kind. Je perfekter Eltern sein wollen, desto unerbittlicher hält das Kind ihnen den Spiegel vor. Viele halten diese Konfrontation nicht aus, und so projizieren sie die eigenen Fehler auf die Kinder nach dem Motto: „Wenn du dich besser verhalten würdest, dann müsste ich dich nicht anschreien, bestrafen, reglementieren …“

Der Perfektionismus der Eltern lässt Kinder zu Sündenböcken werden, mit denen Vater und Mutter ihr pädagogisches Scheitern erklären: Kinder, die einen Fehler gemacht haben, werden dann selbst zu Fehlern. Die Folgen sind Machtkämpfe und unwürdiges Gezerre, ein unsoziales Miteinander und kindliche Rachefeldzüge für erfahrenes Unrecht.

Statt nach einem nicht umzusetzenden Perfektionismus zu streben, möchte man Eltern also vielmehr den Mut zur Unvollkommenheit wünschen. Denn: Unvollkommenheit macht menschlich. „Ich bin unvollkommen, also bin ich“, so haben die amerikanischen Autoren Howarth und Tras das ausgedrückt. Unvollkommenheit ermutigt, Neues auszuprobieren, spornt an, etwas Überraschendes zu machen; Unvollkommenheit lässt unverwechselbar werden, zeigt Kindern, wie Eltern an sich arbeiten, weil sie sich in ihren Persönlichkeits- und Handlungsmustern entwickeln wollen.

Erziehen geht nicht nach Rezept

Der vielleicht schmerzhafte Abschied vom allgegenwärtigen Perfektionismus bedeutet zugleich, sich von einer anderen verbreiteten Idee zu verabschieden: dass nämlich Erziehung ein planmäßig zu gestaltender Prozess sei, in dessen Verlauf Eltern ihre Kinder auf ein Ziel hin orientieren können. Kinder lassen sich nicht nach Plänen erziehen, schon gar nicht nach jenen, die die Ratgeberliteratur nach dem Erfolg verheißenden Rezept „Jedes Kind kann ... lernen“ bereithält. Gleichwohl verlaufen Erziehungsprozesse nach bestimmten Regeln, die aber jederzeit in chaotische Strukturen umschlagen können: Wenn ein Kind aus dem Säuglings- in das Trotzalter kommt, gilt es, diese Herausforderung ebenso anzunehmen wie später die Pubertät des Schuldkinds. Nichts stimmt dann mehr von dem, was einst passte. Und wer dennoch an jenen Regeln festhält, die früher einmal galten, provoziert damit wahlweise Stillstand und Friedhofsruhe oder Machtkampf und immer währenden Streit.

Wer Kinder erzieht, muss sich von der Idee verabschieden, alles sei pädagogisch machbar. Die Erziehungsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern sind von Regeln und Chaos gleichermaßen geprägt. Oder, anders formuliert: Erziehung ist eine gestaltende Kraft, mithin nicht sinnlos, aber zugleich verläuft sie nicht selten chaotisch. Denn kulturelle, soziale oder politische Rahmenbedingungen relativieren die Erziehung genauso wie kindliche Persönlichkeitsmerkmale, die genetisch bedingt sind. Für Eltern heißt das: Das Chaos annehmen und lernen, damit zu leben. Verdrängt man es, will man es gar nicht wahrhaben, dann kommt es durch die Hintertür ständig und aufs Neue in den Alltag.

Das Leben mit Kindern ist voll von Spontaneität, die Intuition erfordert. Jedes Kind, jedes Familienleben ist einmalig, deshalb bietet jeder Tag etwas Neues, Überraschendes, Nicht-Vorhersehbares. Manchmal wirken pädagogische Handlungsmuster, ohne dass man weiß warum; ein anderes Mal erziehen Eltern nach einem Rezept, und die Wogen kochen hoch, obwohl sie nur das Beste wollten.

Resümee

Erziehung ist eine gestaltende Kraft, der eine Ordnung innewohnt. Aber nicht immer weiß man, wie diese Ordnung funktioniert, wann pädagogische Maßnahmen bei einem Kind Früchte tragen oder bei einem anderen nicht. Diese Ordnung ist mithin das halbe Leben; die andere Hälfte ist das Chaos. Und wie man lernt, die Ordnung zu akzeptieren, so kann man lernen, sich mit dem Chaos zu arrangieren. Es macht möglicherweise Angst, weil man sich wie auf einem schwankenden Schiff inmitten eines Orkans fühlt. Aber wer diese Unsicherheiten aushält und akzeptiert, dass Unvollkommenheit zum Leben, zur Erziehung und zu den zwischenmenschlichen Beziehungen gehört, der ist bereit, sich auf Neues, Unerprobtes einzulassen. Das macht Eltern ebenso Mut wie den Kindern, die längst spüren, dass ohne Chaos nichts geht und im Chaos Potenziale enthalten sind, die die eigene Entwicklung fördern.

Jan-Uwe Rogge